Alter Ego is a photobook about LARP - Live Action Roleplay, where people become and play physical characters like in an improvisation Theater without any audience. The book shows portraits of people in their costume as they are in their role with different facets, with their commitment to detail and the different epochs and genres.
Additional various Interviews and a scientific text are showing motivation and background of the players and give an insight of a topic that is quite unknown to people.
To be in-a-role can be an unconsciously reflective way of self-portrayal as well as a social outbreak of the everyday life. 

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Alter Ego Interviews

Mein Charakter ist Feldarzt in einem Söldner­tross und es zeichnet ihn eine gewisse Arroganz aus. Als Inspiration dafür diente die Serie Sherlock von BBC und Ezio ­Auditore aus den Assassins Creed Spielen.

Liverollenspiel ist mein Hobby, weil ich Dinge ausprobieren kann, die ich im normalen Leben nicht ausprobieren kann. Es ist aber auch eine gewisse Art, sich künstlerisch zu entfalten, wenn man eine neue Gewandung oder ein Konzept entwirft oder sich mit der Hintergrundgeschichte eines Charakters beschäftigt. Mich begeistert es, beim LARP der Moderne zu entfliehen, eine Art Urlaub zu machen, indem man komplett auf Multimedia verzichtet, sich wieder auf rein verbale Kommunikation beschränkt und eine gewisse Dynamik mit Mitspielern findet. 

Anfangs musste ich sehr stark mit Vorurteilen kämpfen, weil ich LARP noch nicht richtig verstanden hatte und deswegen noch nicht mit so einer Konfrontation umgehen konnte. Jetzt sehe ich das aber sehr locker. Wenn Leute sagen, dass ich aus der Realität entfliehen möchte oder kein soziales Leben habe, lasse ich sie einfach reden und mache Witze darüber. 

Für mich gibt es eine klare Trennung vom LARP zum Real Life. Gewisse Dinge würde ich niemals im echten Leben machen und trenne hierbei auch stark zwischen Spiel und Nicht-Spiel. Wenn ich beispielsweise jemanden im Spiel beleidige, heißt das nicht, dass ich ihn auch außerhalb des Spiels nicht leiden kann. Es ist für mich sehr wichtig, dass mein Gegenüber das auch versteht. Natürlich gibt es auch im LARP moralische Grenzen, aber ich kann trotzdem sehr fies sein und direkt sehen, wie andere Leute darauf reagieren. Dann kann ich dementsprechend für mein Privatleben Schlüsse ziehen und Erkenntnisse schließen. Es ist irgendwie ein Hobby, das ich vom Alltag abgrenze, aber es ist für mich auch mit Sicherheit eine Lebenseinstellung, denn Rollenspieler sind sehr offene Menschen, gerade durch ihre Erfahrungen, die sie im Spiel gemacht haben.


Durch das Rollenspiel bin ich mutiger geworden, Sachen direkt auszusprechen und nicht immer diese Distanziertheit zu gewahren. Es hat mir die Energie gegeben, mich auch mit Streitereien und Schwierigkeiten auseinander zu setzen und diese auch direkt anzusprechen. Das ist auch genau das, was ich bis heute noch gerne mache und in meinen Alltag integriere. Ich studiere Theologie und Sozialpädagogik und dabei geht es mir um gute und barrierefreie Kommunikation. Genau das kann man im Live­rollenspiel sehr gut erproben. Wenn mich jemand mit Vorurteilen konfrontiert, biete ich ihm an, sich mit mir über das Thema zu unterhalten. Im Laufe dieses Gesprächs wird dieser schnell merken, dass ich genauso eine normale Studentin bin, wie alle anderen auch, die einfach Spaß an der Sache hat. 

Mein Charakter ist immer noch mein Anfangscharakter. Damals hieß er noch »Sophia«, heute dagegen nur noch »Keks«. Keks kann nichts, weiß nichts, macht nur Unfug, wirbelt alle Leute durcheinander, trägt bunte Kleidung, liebt Glöckchen und vertritt Kekse und Weltfrieden. Bei so mancher Schlacht haben wir die Männerhorden vom Kämpfen abgehalten. Denn was passiert, wenn fünfzig Frauen in die Mitte einer Schlacht laufen und gleichzeitig blank ziehen ... Ja richtig, »Weltfrieden«. 

Ich liebe es, mir Geschichten auszudenken und diese dann kreativ weiterzuspinnen. LARP ermöglicht mir genau das, nämlich mal aus dem Alltag abzuschalten und sich treiben zu lassen.  Man kann wunderbar Grenzen austesten, ohne dass tatsächlich Konsquenzen entstehen, denn es ist alles ein Spiel. 

Der Reiz selber in eine andere Rolle zu schlüpen, ist auf jeden Fall das Abenteuer, die Spannung und Kreativität, die man dabei erfährt und erlebt. Ich kann einfach jemand Anderes sein, auch wenn ich im echten Leben gar nicht so bin, denn ich kann mich bewusst verstellen. So kann ich mich an anderen Leuten einfach mal austesten, ohne dass sie es merken, da ich mich in einer Rolle befinde.


Jeder, der Interesse für Fantasy und andere magische Welten hat, sucht sich seine Sache aus, ob es nun Bücher sind, Filme, Videospiele oder eben LARP. Beim Liverollenspiel ist man wirklich in dieser Welt drin und lebt das dann auch drei bis vier Tage an so einem Wochenende und alles Andere wird ausgeblendet. Es ist für mich auf jeden Fall ein Hobby, aber es ist auch irgendwie viel mehr als das. Ich persönlich lege sehr viel Herzblut hinein, denn dadurch hat sich letztendlich auch mein Berufswunsch als Designer ergeben. Es macht mir Spaß, andere Welten zu er­schaffen, ob es jetzt Setdesign oder Kostümdesign ist, es steckt immer viel Leidenschaft darin. 

Das Rollenspiel hat mich über die Jahre sehr beeinflusst. Was ich alles gesehen habe und wie die Leute selbstständig und unfassbar kreativ werden, das prägt einen sehr. Es gibt aber eine klare Trennung zum echten Leben. Die ganzen Sachen stehen zwar zuhause rum, aber das heißt nicht, dass ich auch so am Küchentisch sitze oder fernsehe. Das Interessante am Spiel ist, dass man alles andere ablegen kann und nicht so befangen ist, wie in der richtigen Welt, egal ob man jetzt im Namen des Guten auftritt oder, was für mich den größeren Reiz hat, ein bisschen böse ist und einfach ­Sachen auslebt, die im normalen Leben nicht möglich sind. Man ist dort komplett selbstständig, wenn man zum Beispiel seine eigene Meute befehligen und gefährliche Geschäfte abhandeln muss. Es ist einfach eine Ausweitung der Fantasie. Was man normalerweise nie machen würde, ist dort möglich.  

Am meisten macht mir dabei Spaß, dass man sich wirklich in einer Fantasiewelt befindet. Man schlendert durch das Lager und fühlt sich einfach gut, aber ich mag auch den Adrenalinkick, wenn man in einer Schlachten­linie von 300 bis 500 Leuten steht, die aufeinander zu rennen. Gerade wenn ich meinen Uruk spiele, sieht man dann schon die Angst in den Augen der Gegner. Dann fühlt man sich wie in einem Heldenepos. Alle, die einmal selber dabei gewesen sind, sind danach total perplex und finden es richtig gut. 


Taful ist ein Schwarzrock und einer von mehreren Charakteren, die ich spiele. Er ist als Nichtspieler Charakter, also NSC, entstanden. Das sind Figuren, die die Hauptgeschichte vorantreiben oder die Gegner spielen. Das war ich in dem Falle auch auf einer Convention. Konnte da so richtig böse sein und Urgewalten wirken lassen. Dann habe ich diesen NSC später als Spieler-­Charakter weitergespielt und habe mittlerweile einen ordentlichen Werdegang hinter mir. Ich bin Heerführer und habe gut 100 bis 150 Uruks unter mir und natürlich meinen eigenen Clan, wo ich der Obrok, das heißt der Herrscher, Häuptling oder König, bin. 

Eigentlich spielt man verschiedene Charaktere um Nuancen, die man in seinem eigenen richtigen Charakter hat, mehr Gewichtung zu geben und diese auszuspielen oder auch etwas zu machen, was man normalerweise nicht machen würde. Ich bin in meiner Rolle ein Ork und böse, aber als Menschen würde ich mich natürlich nicht als böse bezeichnen. Was mich daran viel eher wiederspiegelt, ist der Kämpfer und Krieger, der ich, im übertragenden Sinne, auch im wahren Leben bin. 

Wenn man LARP einmal ausprobiert und daran Gefallen gefunden hat, ist es das schönste Hobby der Welt. Man kann das zwar auch negativ sehen, wenn man Urlaub von sich selbst hat, so wie Flucht vor der Realität, aber wenn man das nur für ein Wochenende macht, dann ist das nichts anderes, als wenn man in die Berge fährt, um zu klettern. Dort beschäftigt man sich auch nicht mit dem, was man normalerweise im Alltag zu tun hat. Man kann man seinem Alltag entfliehen und total abschalten. Ich kann eintauchen in eine andere Welt, alles um einen herum ist an das Ambiente angepasst. Wenn wir zu einer Convention fahren, dann nie alleine, sondern immer in einer Gruppe und das, was wir in der Gruppe erleben und den Spaß, den wir zusammen haben, das ist einfach toll. Davon kann man später noch zehren. Wenn man Sonntags von einer Con zurückkommt, dann ist man zwar total KO, aber glücklich.


An sich kann man sagen, dass die meisten Charaktere, die ich spiele, einen schurkenhaften Charaktertyp verkörpern. Sie sind nicht abgrundtief böse, bewegen sich aber eher in einer Grauzone. Mein Haupt­charakter ist eigentlich ein klassischer Ganove oder Schurke. Er macht zwielichtige Geschäfte, verdingt sich offiziell aber als Händler im Druckgewerbe. Hier habe ich mein Wissen und meine Profession aus der realen Welt in den Charakter einfließen lassen, denn ich wollte Dinge, die ich gelernt habe, mir auch im Spiel zunutze machen. Ich wollte ihm etwas mitgeben, woraus er Vorteile ziehen kann und so vertreibt und produziert er zum Beispiel auch Bücher. Aber hinter dieser Fassade ist er ein Scharlatan und treibt sich mit zwielichtigen Gestalten herum. Er lebt ein Doppelleben und beschäftigt sich mit organisiertem Verbrechen. Die Charakter­geschichte hat sich im Laufe der Jahre so entwickelt, das war nicht von Anfang an so.  Er ist ein mysteriöser, charmanter Typ, der schmierig aussieht, den man aber nicht unerschätzen sollte. Die meisten Charaktere von Rollenspielern sind nicht einfach gestrickt, es steckt immer eine detailliert ausgearbeitete Geschichte dahinter. Die Liebe zum Detail ist dabei von Spieler zu Spieler unterschiedlich. LARP benötigt immer viel Vorbereitungszeit. Selbst wenn man anfängt zu spielen, muss man sich erst Gedanken über seinen Charakter machen und sich eine passende Gewandung zulegen.

Es ist ein vielseitiges Hobby und man beschäftigt sich automatisch viel mehr mit Themen, die im großen und Ganzen mit Liverollenspiel zusammenhängen. Ich habe eine Menge handwerklicher Dinge durch das Liverollenspiel gelernt, wie zum Beispiel Lederverarbeitung und ich habe mich auch viel mit der Geschichte des Mittelalters und der Antike, bis hin zur Moderne befasst. Viele gewinnen durch das Spiel auch mehr Selbstbewusstsein, weil sie dort leichter herausfinden, was ihre Stärken sind. Das können sie dann im Alltag nutzen. Andersherum prägt das alltägliche Leben natürlich auch den Charakter, den man spielt. Das gibt ihm mehr Tiefe und Authentizität.


Seit über fünfzehn Jahren begeistere ich mich schon für Post-Apokalyptische Themen. Ich mochte dieses Genre sofort, was sich früh in PC-Spielen und Filmen wiederspiegelte. Vor ungefähr fünf Jahren habe ich zum ersten Mal von Post-Apokalyptischen LARPs gehört. Dann war es so weit und ich besuchte meine erste Post-Apo-Veranstaltung. Zuvor war ich zwar schon auf einer Fantasy-­Convention, aber dort hat es mir nicht ganz so gut gefallen. LARP ist nicht nur ein Event, sondern auch eine Community, ein Haufen toller Leute mit gleichen Interessen. Als ich auf dem »Old Town« war, merkte ich zum ersten mal, dass ich mit diesem Post-Apo Zeug nicht alleine bin. Es gibt auch andere Leute, die das machen und ich befinde mich mitten unter ihnen. Das war wirklich eine tolle Erfahrung Gleichgesinnte zu treffen. Seitdem hat sich das immer wieder bestätigt. Es ist einfach ein geiles Gefühl. 

Mein Charakter heißt Jay Riffs, den ich von einem Sci-Fi Buch abgeleitet habe. Er ist eine Mischung aus dem, was ich bin und aus dem, wie ich gerne sein würde. Es ist eine post-apokalyptische »bessere« Version von mir, mit der ich Sachen ausleben kann, die ich im realen Leben nicht machen kann. 

Vor anderthalb Jahren habe ich dann begonnen mich ernsthaft mit Kostümen zu beschäftigten.  Das basteln von den Outfits für einen selber, oder auch für Freunde, ist immer ein sehr persönlicher kreativer Prozess, bei dem du dich völlig entfalten kannst, was nicht überall in so einer Tiefe möglich ist. Bei dem physischen Basteln habe ich etwas gefunden, wo ich meine Fähigkeiten auf eine andere Weise kanalisieren kann und das gibt einem Mut, um sich anders auszuleben. 

Ich habe selten so gute Leute getroffen wie in der Post-Apokalyptischen Community, auch wenn wir »Nerds« sind, weil wir Computerspiel-Welten so stark ausleben. Aber das ist auch kein Vorurteil, das ist einfach so. Menschen mit Vorurteilen übersehen den künstlerischen Aspekt, denn alles was wir selber kreieren, sind kleine Kunstwerke. 

 

Interviews von Illona Schmidt & Felix von der Osten

 


 

Live Action Roleplay

Live-Rollenspiel kann bei flüchtiger Betrachtung leicht als die Erwachsenenvariante eines Kinderspiels angesehen und als solches abgetan werden. Das inhärente Potenzial als eine neue Form der Kunst wird dagegen oft sowohl von Live-Rollenspielern als auch von Außenstehenden gleichermaßen geleugnet. Das ist natürlich zum Teil auf das Verhalten einiger seiner aktiven Teilnehmer zurückzuführen, aber auch auf Ignoranz und Arroganz von außenstehenden Parteien. 

Der erste Irrtum ist, dass Live-Rollenspiel das ist, was es auf den ersten Blick zu sein scheint: ein spielerisches Hobby bei dem die Menschen so tun, als wären sie jemand anderes. Das ist es nämlich nicht. Live-Rollenspiel ist vielmehr ein Satz von Werkzeugen, die für diesen Zweck verwendet werden. Live-Rollenspiel ist ein Medium, ein System um persönliche Erfahrung durch phantastische Verstellung zu generieren. So wie Fernsehen die verschiedensten Arten von Programmen übertragen kann, von der billigsten Sitcom bis hin zu anspruchsvollster Kunst und informativen Dokumentationen, kann auch Live-Rollenspiel für verschiedene Zwecke von unterschiedlicher Qualität verwendet werden. Meistens wird es einfach nur so zum Spaß gespielt , aber einige Live-Rollenspiel-Designer haben darüber hinaus weit höhere künstlerische, politische und/oder pädagogische Ansprüche. Live-Rollenspiel wird oft mit Theater verglichen und zwar sowohl von Live-Rollenspielern als auch von Laien. Dies ist zunächst einmal ein passender Vergleich, da beide die physische Darstellung einer Rolle beinhalten. Die entscheidenden Unterschiede liegen in der Tiefe der Rolle und dem Mangel sowohl an Publikum als auch einem genauen Drehbuch im Live-Rollenspiel. Die Grenze ist jedoch fließend. Bei den Inhalten gibt es jedenfalls keine wirklichen Unterschiede: Ein Sommernachtstraum und Der Sturm sind, was grundlegende Konzepte und Handlungen angeht, genauso einfach gestrickt, wie typische Fantasy-Live-Rollenspiele. Spieler tauchen im Live-­Rollenspiel in der Regel auf eine andere Art und Weise in ihre Charaktere ein als Schauspieler. Das ist aber nicht unbedingt immer der Fall. Das Stanislawski-System und das später von Strassberg daraus entwickelte Method Acting zum Beispiel, zielen zwar eigentlich auf die Interpretation von Skripten und nicht auf freies Spiel ab, haben aber in Bezug auf das Eintauchen in den Charakter den gleichen Anspruch wie Live-Rollenspiel. Es gibt außerdem verschiedene Formen von Schauspiel, die keine Skripte verwenden. Improvisationstheater basiert zum Beispiel nur auf sehr groben Konzepten und hat nur sehr einfach skizzierte Rollen, wird aber trotzdem als vollwertige Form von Theaterkunst betrachtet. Die „Theatre-Games“, die Viola Spolin erfunden hat, sind von der Form her sogar noch näher mit Live-Rollenspiel verwandt. Auch der Unterschied in Bezug auf Publikum schwindet plötzlich, wenn wir experimentelles Theater betrachten. Mein Aufsatz Kaprow‘s Scions zeigt, dass Live-Rollenspiel eng mit den Happenings der 1960er Jahre verwandt ist – oder vielleicht eine weiterentwickelte Form des gleichen Konzepts ist. Wie Kirby feststellt, benötigt eine Performance keine Zuschauer oder Zuhörer um sich als Darstellende Kunst zu qualifizieren. Lancaster, Mackay und Phillips sehen Live-Rollenspiel als Kunst, die für die anderen Teilnehmern durchgeführt wird, und die deshalb kein Publikum von außerhalb des Spiels benötigt. Szatkowski spricht von Live-Rollenspiel als rituelles Theater mit einem Publikum in Ich-Perspektive, das aus den Spielern besteht. Wenn man bedenkt, dass sich ein Happening problemlos als ein Werk der modernen Kunst qualifiziert, auch wenn das Publikum nur aus den Teilnehmern besteht, gibt es keine wirkliche Basis um künstlerisch anspruchsvolles Live-Rollenspiel auszuschließen, das die Merkmale dieser Kategorie ebenfalls aufweist.

Phillips ist der Auffassung, Live-Rollenspiel sei Teil einer größeren Gruppe von spielerischen Formen der Verstellung, die er Interaktives Drama nennt. Diese wiederum seien eine neue Form von Theater. Diese Form sei vergleichbar mit anderen Arten von Schauspiel, die auf die eine oder andere Art mit traditionellen Theaterstruktur brechen, vom experimentellen Theater bis hin zum therapeutischen Psychodrama. Darüber hinaus hat Choy beobachtet, dass die schauspielerischen Verdienste des Live-Rollenspiel ignoriert werden, da sie eher mit spielen (im Sinne von Kinderspiel ) verbunden werden und dies häufig gering geschätzt wird. Dies ist sowohl ein Problem, als auch eine Chance. Live-Rollenspiel verdient Anerkennung, sollte sie aber aus sich selbst heraus erhalten und nicht als etwas, was es nicht ist – sei es Theater oder etwas anderes. Live-Rollenspiele können mit einem unterschiedlich hohem Grad an drehbuchhafter Lenkung gestaltet werden. Hier steht Live-Rollenspiel vor den gleichen Beschränkungen wie traditionelles Theater, aber der Einsatz von Skripten wurde von Vertretern beider Kunstformen experimentell weiterentwickelt. Häufig läuft die Handlung eines Live-Rollenspiels zu­fällig ab, oder anhand eines vom Spielleiters gestalteten Plots. Andere Spiele nutzen Systeme wie Schicksals-Wegmarken, ansteigende Spannungslevel oder sogar Plotmanipulation von innen heraus, wodurch eine Art „Drehbuch“ erzeugt wird. Doch auch das ist noch nicht das Ende. Kaprow, zum Beispiel, spricht von Skripten als etwas, das gleichzeitig notwendig ist und doch überwunden werden muss. Noch bedeutsamer für Live-Rollenspiel ist aber seine Idee von Chance- und Change-Kunstwerken (Zufall und Veränderung). Diese seien Kunstformen die nur zu dem Zweck erschaffen werden, um während ihrer Existenz durch andere Menschen verändert und/oder neu erschaffen zu werden. Auf Live-Rollenspiele treffen beide Aspekte zu, und sie verkörpern vor allem Kaprows Idee des Zufalls (Chance), dass man Kunst schaffen kann, die sich unvorhersehbar entwickelt, deren Resultat am Ende jedoch als das, was es schon immer werden sollte angesehen werden kann.

Darüber hinaus waren auch Happenings, so wie Live-Rollenspiele, Zufalls-Kunstwerke, die zwar auf einem Skript basierten (das manchmal eingehalten wurde, manchmal nicht), aber bei denen die wichtigsten künstlerischen Inhalte kurzlebig waren und in dem Moment verschwanden, in dem sie ausgeführt wurden. Es kann natürlich argumentiert werden, dass der wesentliche Zweck der Aktivität selbst, Live-Rollenspiel vom Anspruch Kunst zu sein disqualifiziert. Schließlich ist es ein Spiel. Dass etwas ein Spiel ist heißt jedoch nicht, dass es nicht zugleich auch Kunst sein kann. Im Gegenteil, man kann Spiele jeglicher Art als etwas betrachten, dem eine gewisse Kunst zu eigen ist, und das zusätzlich eine sekundäre künstlerische Ebene aufweist, etwa durch Kostüme oder der handwerklichen Fertigung von Spielmaterial. Dass Spiele Kunst sein können, wird von ernsthaften Wissenschaftlern nicht geleugnet. Im Gegenteil, sie werden oft als solche definiert. Das künstlerische Potential von Live-Rollenspiel zu leugnen ist, als würde man einen schnellen Blick auf ein paar Soaps und Reality-TV- Shows werfen und dann behaupten Fernsehen könne niemals Dinge von Bedeutung schaffen. Man muss das Potenzial des Mediums betrachten, nicht nur das, was mit ihm im allgemeinen geschaffen wird, um offensichtlich künstlerische Arbeiten zu finden. Und wenn man genau genug hinsieht, ist es möglich viel künstlerisches auch in den Werken zu finden, die als gewöhnlich abgetan werden. Die Plotkomplexität, die selbst unerfahrene Live-Rollenspiel-Schreiber schaffen, ist mindestens genauso abwechslungsreich, wie die Dialoge manch einer hoch geschätzten TV-Show.

 

Es ist nicht zu leugnen, dass Live-Rollenspiele sowohl unter Vorurteilen von außen als auch von innen leiden. Einige Spieler wollen den Aspekt des einfach Spaß haben bewahren. Gleichzeitig versuchen Menschen mit einer begrenzten Auffassung von dem, was Kunst darstellt, etwas das sie für eine Art Kinderspiel halten, von „echter“ Kunst abzugrenzen. Tatsache ist jedoch, dass Live-Rollenspiel das Potenzial hat, eine Kunstform zu sein. Es wurde sogar schon gezeigt, dass es dieses Potenzial erfüllen kann. Es hat erfolgreiche Gemeinschaftsproduktionen mit anderen Kunstformen gegeben, mit hoch gelobtem Erfolg, und Live-Rollenspiel wurde genutzt, um Menschen in bereits anerkannten Formen von Kunst zu unterrichten. Dies bedeutet, wenn man eine logische Schlussfolgerung zieht, dass die Beweislast nun bei der Seite liegt, die behauptet dass Live-Rollenspiel nicht Kunst sein kann. Die weit verbreitete Einfachheit der Form, wie sie derzeit zumeist – in Deutschland oder anderswo – praktiziert wird, ist kein hinreichender Grund für eine Ablehnung. Der Theatertheoretiker Martin Esslin erklärte im Jahr 1980 über Happenings, eine inzwischen allgemein anerkannt, experimentelle Kunst, dass ein neuer Typ des künstlerischen Ausdrucks nicht so einfach von der Hand gewiesen werden sollte, nur weil die ersten Versuche kindisch oder dilettantisch seien. Dies gilt in großem Maße auch für Live-Rollenspiel: Das Medium sollte nicht alleine durch einen kurzen, oberflächlichen Blick auf die ihm innewohnende Action beurteilt werden. Auch nicht, wenn diese Action das ist, was die meisten Teilnehmer beim Live-Rollenspiel suchen. Live-Rollenspiele haben sich sowohl die Ideen des Publikums in der Ich-Perspektive (erträumt von den Machern experimentellen Theaters) als auch Brechts Verfremdungseffekt zu Herzen genommen, und eine neue Form des künstlerischen Experimentierens entwickelt. Das einzige, was wir wirklich in Bezug auf das Potenzial als Kunst hinterfragen können ist, ob es sich um eine neue Kunstform handelt oder nicht. Und selbst wenn wir die Neuheit leugnen, müssen wir dem Weg von Morton und Montola, Stenros & Waern folgen und Live-Rollenspiel als Nachfahre früherer Kunstformen akzeptieren und damit – wieder, und nun auf stärkere Weise – als etwas, das wahre Kunst produzieren kann. 

Text von J. Tuomas Harviainen